Martyr: Darkness At Time's Edge
Mitte der 90er-Jahre, nicht lange nach meinem Einstieg in die Welt des
Schwermetalls, reifte langsam aber sicher der Gedanke, mir einen
Plattenspieler zuzulegen, um endlich jenen Alben habhaft zu werden, die es
damals noch nicht zu einem CD-Release gebracht haben. Klanghafte Namen wie
SHOK PARIS, HEXX, DEADLY BLESSING, SIREN, THOR, CHASTAIN, DAMMAJ, AIRWOLF
oder SATAN’S HOST schoben sich auf die immer länger werdende Wunschliste und
als Kaufargumente auf die Pro-Vinyl-Seite. Doch was es noch brauchte, war
ein finaler Auslöser, einen Katalysator der aus der bloßen Idee eine
Gewissheit machte. Einige Jahre später war es dann soweit. Ein
Holland-Special erschien im Heavy-Magazin, verfasst von einem gewissen Arno
Hofmann, das mich auf einen Schlag mit neuen, mir damals unbekannte
Bandnamen wie LEADER, FUTURE TENSE, ANGUS, VAULT oder MARTYR infizierte und
gleichzeitig in dem Teil meines Gehirns, das für Rationalität und
Sparsamkeit zuständig war, sämtliche Alarmsirenen aufheulen ließ.
Vergeblich natürlich. Denn nach der Anschaffung eines Drehautomaten wurde
auch das nächste Azubi-Gehalt auf einer Plattenbörse in München derart im
Akkord verbraten, dass im Vergleich dazu jeder Landesbank-Fürst und EUrokrat
zum puritanischen Geizkragen schottischer Abstammung degradiert wurde. Ein
wichtiger Bestandteil der ersten Ausbeute war der Doppelback der
niederländischen Märtyrer, bei der man erst einmal zum Selbigen werden
musste, als es galt, das selten hässliche Cover des Zweitwerks zu ignorieren
und die Scheiben dennoch einzutüten. Unglaublich. Lediglich die erwähnten
SIREN aus Florida schafften ein Jahr zuvor einen vergleichbar extremen
Gegensatz von musikalischem Können und optischer Zumutung.
Bereits der Vorgänger “For The Universe“ konnte mit exzellenten und oft
schnell gespielten Heavy Metal überzeugen, der eine klare und jederzeit
hörbare NWOBHM-Schlagseite aufweist. Einziges Manko: die kurze Spielzeit.
Nur ein Jahr später nahm man beim Nachfolger, mit dem etwas rätselhaften
Titel “Darkness At Time’s Edge“, einen leichten Kurswechsel vor, weg vom
britisch-direkten Stil, hin zu einer etwas progressiveren Spielweise. Und
ja, wenn ich selbst einen solchen Satz lesen muss, sträuben sich sämtliche
Körperhaare, aber hier ist “Weiterentwicklung“ ausnahmsweise gleichbedeutend
mit Steigerung des metallischen Hörvergnügens. Denn das gebotene
Songmaterial besticht durchgehend durch wunderbare Melodien, klugen und
niemals zu verschachtelten Songaufbau, prägnante Hooklines und stimmige
Arrangements. Etwa bei den eingesetzten Gesangseffekten zu “Child Of
Science“, das mich an die genialen QUEENSRYCHE-Sons auf “The Warning“
erinnert. Und trotz aller überbordender Spielklasse, Ideen und intelligenten
Texten macht man zu jeder Sekunde Musik für Heavy Metal-Fans. Damals noch
eine banale Selbstverständlichkeit, was man ab den 90ern dank DREAM THEATER
und deren Nachahmer leider nicht immer behaupten kann. Welcher Metalfan
braucht denn unbedingt instrumentale Effekthascherei, klinisch-kalte
Produktionen und trendige, stilfremde Elemente? Hab ich nie verstanden, aber
auf eine Rückbesinnung auf alte Tugenden zu hoffen, wäre wohl genauso
vergeblich, wie darauf, dass eine Formation wie MARTYR endlich die
Anerkennung zuteil bekommt, die sie verdient hätte. Dabei hab ich bis jetzt
noch nicht einmal Sänger Gereard Vergouw erwähnt, ein im höchsten Maße
charismatischer Gesangsakrobat, der in seiner Zunft zu den Besten, ach was,
den Allerbesten in Europa gehört. Hier verzichtet er auf die hohen Screams,
wie er sie beim Metal Massacre-Song “En Masse (Stand Or Die)“ gleichfalls
kompetent zum Einsatz bringt, sondern er ordnet sich den hochmelodischen
Strophen und Refrains unter und ist dennoch der natürlich Mittelpunkt eines
jeden Songs. Bis auf das Intermezzo “1-30“ natürlich, wo mit Akustikgitarre
und sakralem Gesang eines Indianerschamanen (den man wohl extra aus einem
Reservat in Nevada ins holländische Studio eingeflogen hat) eine sagenhafte
Stimmung erzeugt wird, die man gleich in den folgenden Schlusstrack “Unknown
Forces“ mit rüber nehmen kann, wo auf knapp neun elektrisierenden Minuten
noch mal alle Vorzüge, Fähigkeiten und Geschicke der Band aufgefahren und
demonstriert werden. Alle Achtung, hier waren Meister und Könner am Werk!
Später haben dann High Vaultage beidn Alben auf CDs zugänglich gemacht,
garniert mit einigen interessanten Demosongs, auf denen man allerdings eine
Band hört, die noch nicht so recht zu ihrem Stil gefunden hat. Beide LPs
sind aber auch im Original noch zu vernünftigen Preisen auffindbar und auch
Plattenspieler gehören bei Anhängern des traditionellen Heavy Metal zum
Glück mittlerweile wieder zum guten Standard.
(c) 2010, Peter Müller
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