Iron Maiden : Brave New World

Jawoll! Das ist sie: die Maiden-Platte, auf die ich in den letzten zehn Jahren vergeblich gewartet habe. War doch "Seventh Son Of A Seventh Son" seinerzeit zusammen mit den "Keepers" von Helloween sowie Priest's "Painkiller" mit der entscheidende Grund, der mich zum Heavy Metal bekehrte. Die Folgealben waren zwar allesamt nicht schlecht ("Fear Of The Dark" und "The X-Factor" teilweise sogar richtig stark), aber wirklich überragende Maiden-Klassiker wurden in den 90ern nicht gerade produziert. Über die Gründe dafür wurde ja schon diskutiert, bis der Arzt kam - Adrians Abgang ist schuld, Bruces Abgang ist schuld, Blaze ist schuld, Steve ist schuld, etc., etc...

Nun, Schuldzuweisungen werden sich Maiden mit DIESEM Album garantiert nicht anhören müssen, soviel prophezeihe ich nach dem Genuß der zehn neuen Songs einfach mal - denn um einen Genuß handelt es sich in der Tat. Immerhin haben Iron Maiden ein absolutes Highlight der langen Bandgeschichte aus dem Ärmel geschüttelt, das sich hinter KEINEM der alten Alben verstecken müßte. Und weil ich nicht oft ein Maiden-Album rezensieren darf (ganz zu schweigen von einem von dieser Qualität!), nehm' ich mir die Zeit und geh' die Songs einzeln durch. Als da wären:

1. "The Wicker Man" - Die erste Single, bekannt aus Funk und Fernsehen. Klassischer Maiden-Opener mit typischem Adrian Smith-Riff, eher kommerziell. Nicht übel, aber keins der Highlights des Albums.

2. "Ghost Of The Navigator" - Jetzt wird's langsam überragend. Wer Janick Gers immer noch nichts zutraut (so Leute soll's ja geben), der dürfte jetzt, spätestens aber mit "Dream Of Mirrors", eines besseren belehrt werden. Etwas progressiver als der Opener, ist "Ghost...", eine fantastische Hymne im "Somewhere In Time"/"Seventh Son"-Stil, wohl der bisher stärkste Song aus der Feder des Gitarristen.

3. Der Titelsong knüpft direkt dort an, braucht aber ein, zwei Durchläufe mehr, um sich im Ohr festzusetzen. Dann aber wird man diesen epischen Hammertrack nicht mehr los. Hat gegen Ende einige überragende Gitarrenduelle der "Three Amigos" Smith/Murray/Gers zu bieten, bei denen ich mich stets zehn Jahre jünger fühle.

4. Danach wird mit "Blood Brothers" 'ne Extraportion Atmosphäre ausgepackt. Meine Fresse, was für ein Song! Kann man sich im groben als eine Mischung aus "Afraid To Shoot Strangers" (balladeskes Tempo) und "The Clansman" (keltische Melodien, etwas im Stil von Jethro Tull) vorstellen und wird bei Konzerten in Zukunft Gänsehaut ohne Ende verbreiten, gerade auch dank exzellenter Lyrics von Steve Harris. Hätte auch gut auf das "Fear Of The Dark"-Album gepaßt.

5. "The Mercenary" - ein sehr klassischer Maiden-Banger, der auch auf der "Piece Of Mind" nicht deplaziert gewesen wäre. Geht ohne Umwege ins Ohr - ist zwischen den progressiveren Mega-Epen, die diese Scheibe ansonsten dominieren, auch bitter nötig. Gerade diese Art von Songs hatte man schließlich zuletzt auf "Virtual XI" fast völlig vermißt.

6. "Dream Of Mirrors" - hier geht's erstmals über neun Minuten hinaus. Sehr starker, ruhiger Beginn, der mich irgendwie an alte Queensryche erinnert. Steigert sich dann ständig, bis ein typischer, galloppierender Rhythmus den Song in Uptempo-Regionen katapultiert. Insbesondere der Chorus gehört zum Stärksten, was Maiden jemals auf Tonträger verewigt haben.

7. "The Fallen Angel" - eröffnet mit einem Thin Lizzy-Riff im "Emerald"-Stil und ruft auch sonst stark den Eindruck eines Bruce Dickinson-Solo-Songs hervor. Sehr straighter Rocker mit kommerziellem Touch, erstklassigem Smith-Riff und wahrlich göttlichem Gesang von Rückkehrer Dickinson. Goil!

8. "The Nomad" - 9 Minuten, die zweite. Und abermals lohnt sich jede Sekunde. Wer "Powerslave" oder "To Tame A Land" liebt, sollte hier voll auf seine Kosten kommen - ein mit orientalischen Einflüssen angereichertes Epos, wie es im Buche steht. Und wer liebt diese Songs schon nicht? Eben.

9. "Out Of The Silent Planet" - beginnt mit kurzem Akustikgitarren-Part, geht dann nahtlos in eine weitere Ohrwurm-Hymne mit exzellentem, melodischen Refrain und "Run To The Hills"/"The Trooper"-Flair über. Hit!

10. "The Thin Line Between Love And Hate" - abermals Überlänge. Ist der schwächste der großen Songs auf dieser Scheibe, deswegen allerdings noch längst kein Ausfall. Bruces gewohnt starker Gesang rettet einen Song, der noch auf "Virtual XI"  wohl versagt hätte. Ist halt gut, den Mann zurückzuhaben.

Fazit: Bruce ist kein Angeber, seinen im Vorfeld sehr mutig wirkenden Prognosen für dieses Album hat er mit der Band Taten folgen lassen. Maiden legen eine exzellente Platte mit erstaunlich großer Bandbreite vor, auf der insbesondere Dickinson mit seiner stärksten Gesangsleistung seit anno dunnemals besticht und die sich keinesfalls auf das gelungene Recyclen alter Songideen beschränkt - und so sollte ein Comeback-Album doch sein. Zumindest für mich steht "Brave New World" deswegen ohne Probleme auf einer Stufe mit den 80er Großtaten von "Piece Of Mind" bis "Seventh Son...", die der neuen Scheibe wohl auch stilistisch am ähnlichsten sind.

(c)2000, Ernst Zeisberger 1