Greyhaven: Greyhaven

Irma: Mustafa, was würdest du machen, wenn du dir auf
einmal alle Träume erfüllen könntest?
Strassenverkäufer: Och, nicht mehr träumen.
Irma: Siehst du; das ist die Falle im Leben.

Dialog aus dem Film DIE PUTZFRAUENINSEL (Peter Timm)

In einem spezialisierten Film- und Musikbuchladen in
der Amsterdamer Altstadt arbeitet Katinka. Nicht
selten vergehen zwei Monate bis wir uns mal wieder
guten Tag sagen zwischen den vollgestopften Regalen
und dem teueren Altpapier. Draussen gehen die
Touristen vorbei, halten manchmal ein Augenblick vor
dem fast immer mit ungewöhnlichen Sachen ausgelegten
Schaufenster. Zwei Tassen Kaffee dampfen auf dem mit
allerhand Kleinstkram übersähten alten Bürotisch. Wir
reden über Gott und die Welt.
Katinka hat Whisky und Wodka gern, kann die Nouveau
Riche (im letzten Jahrhundert auch Yuppies genannt)
partout nicht ausstehen, raucht eine seltsame Marke
filterlose Zigaretten und ist mal nachdenklicher, mal
lockerer drauf. Und sie mag undergroundige Musik aller
Stilarten, von Trance bis Gitarrenrock - je
schrammeliger lo-fi es klingt, desto besser. Den Metal
hat sie nie so richtig kapiert. Es ist ihr meistens
zuviel Melodie, zuviel Symphonisches drin, sagt sie.
Umso mehr schade finde ich es, dass sie
Metal Church,
Helstar und Leatherwolf nicht mag (wenn sie diese
Truppen kennen würde); mit ihrer zierlichen Figur,
gebleichten Jeans, schulterlangen braunen Haaren und
angenehmen Lässigkeit wäre sie ein erstklassiger
Metalhead.
Was denn diese Geschichte in einem
Greyhaven-Review zu
suchen hat? Well, brothers and sisters of the metal
underground, es gibt wohl kaum eine Musik die weiter
von Katinkas Geschmack entfernt ist als die dieses
amerikanischen Quartetts. Denn hier lebt die breite
progressive Geste, hier ist kaum die letzte
Traummelodie verklungen, da kündigt sich schon die
nächste an. Fliegende Synth- und Keyboard-Teppiche
entführen den Hörer ins Land der
Tausend-und-eine-Nacht, hochmelodischer und bisweilen
theatralischer Gesang der
Marillion-/Vaudeville-Schule
ist Programm, filigranste Gitarren, dem Märchenbuch
des Progressive Metals entsprungen, markieren jede
Ecke. Und oh Schreck: beschauliche, mystisch
angehauchte Texte über den innerlichen Horizont geben,
ganz wie in den späten Sechzigern und frühen
Siebzigern, den lyrischen Ton an. Nein; wenn
"Greyhaven" die letzte CD auf Erden wäre,
Musikliebhaberin Katinka würde sie sich nicht anhören.
Das
Greyhaven-Debüt hält in seinen acht, meist
überlangen Songs plus epischem Intro eine tiefe Welt
von Musikmärchen bereit, in die man hineintaucht und
aus der man fürs erste nicht wiederkehrt. Ein
Vergleich zu anderen Bands/Platten ist schwierig; mich
traf die Mischung aus Genres als eklektisch und
homogen zugleich.
Vaudevilles "To dimension logic",
"Parallels" von
Fates Warning, "Eyes of the oracle"
von
Power of Omens, spätere Marillion-Scheiben mit
Steve Hogarth - es finden sich jede Menge
Anhaltspunkte für den Feinschmecker, aber bei jedem
fehlt mir dann in Punkto Vergleich letztendlich doch
die volle Überzeugung. Kurioserweise wurde ich beim
ersten durchhören dieser wundervollen Platte auch
erinnert an "Pawn", eine obskure Prog-Scheibe aus 1993
(leider mit textlichem "Konzept") des Holländers
Brassé. Beide Werke atmen eine ähnlich melancholische
wie tranzparente Atmosphäre, leben vom Einklang der
Gitarren mit den dunklen, überdimensionalen Synths und
emotionalen Vocals.
Man wird durch die aufwendigen, nie in
langweilig-trendige Hammond-Retro-Sphären abdriftende
Synth-Arrangements Greyhavens auch an die Arbeiten
diverser Filmsoundtracktüftler wie Eric Serra
(ATLANTIS, THE FIFTH ELEMENT, LE GRAND BLEU) erinnert.
Wie gesagt,
Greyhaven sorgen für eine
aussergewöhnliche Mélange von Stilen und Klangfarben,
die es in dieser Form eigentlich noch nicht gab. Schon
beim zweiminutigen, spacigen Intro "Ride the horizon"
ist klar dass diese Scheibe nicht spurenlos an einem
vorbeisäuseln wird. Dieses Versprechen wird in den
nachfolgenden sechzig Minuten eingehalten. Die warme,
gefühlvolle Stimme von Brian Francis passt zu den
wehmütigen Klängen wie die Delphine zur Südsee und
faszinieren in jedem Song aufs neue. Auch wenn es die
beiden Gitarristen Ethan Matthews und Nate Howard
(mittlerweile nicht mehr in der Band) ordentlich
krachen lassen, verliert Francis nie die klare Linie
und den Übersicht. Das variable Drumming von Nick
Cipriano wird zu keiner Zeit unkontrolliert hektisch
oder künstlich-technisch. Ordentlich von Ethan
Matthews und der Band selbst produziert, ist hier für
Kopfhörerabhängige so etwas wie eine musikalische
Pflichtlektüre erschaffen worden. Das nächste Mal
könnte man die Gitarren im Mix noch etwas mehr
Prominenz und Biss verleihen, aber das ist
Erbsenzählerei.
Obwohl sämtliche Nummern sich mit Hooklines eher
schwertun, kann man das nicht als Kritik anführen,
eher ist die Platte als Gesamtkunstwerk ohne
aufgesetztes Konzept zu verstehen und zu savourieren.
Da ich demzufolge auch keinen einzigen Song als
Highlight hervorheben kann/möchte (oder vielleicht
dann heimlich doch das intensiv melancholische
"Solitude surrounding"...?), bleibt beim ausklingen
des finalen Hammertracks "Cold night by the fortress"
(was für ein Songtitel!) nur die Repeattaste.
Greyhaven; gewiss keine Truppe für diese
schnellebenden, ach so trendverseuchten Zeiten und gar
der Audio-Horror für jemand wie Katinka, den noisigen
Alternativ-Sounds verfallen. Als ich, vom
Wacken-Kreuzzug 2000 heimgekehrt, vor kurzem wieder
einen Mittag plaudernd in der alten Buchhandlung
verbrachte, fragte sie mich wie es denn so gewesen sei
im Heavy Metal Heaven. Zündete sich 'ne Kippe an,
grinste als ich, breit gestikulierend, einige
Eindrücke des metallischen Weltenbummlers mit ihr
teilte. Im Hintergrund lief irgendeine Promo-CD eines
mir namlos gebliebenen Schrammeltrios. Die Tür zur
Strasse stand offen, draussen schien die Augustsonne.
Der Kaffee duftete, Katinka lachte.
All was well, that
day, at the Grey Havens.

(c)2000, Oliver Kerkdijk

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